Grundprinzipien der Geheimlehre

Schon oft ist versucht worden, das esoterische Urwissen der Geheimlehre in die Form weniger prägnanter Grundprinzipien zusammenzufassen. Dabei müssen wir uns zunächst fragen: Was ist denn eigentlich die „Geheimlehre“? Nach den Worten ihrer prominenten Wiederentdeckerin, der Russin Helena P. Blavatsky (1831–1891), nichts Geringeres als „die angehäufte Weisheit der Zeitalter“:

"Die Geheimlehre ist die angehäufte Weisheit der Zeitalter, und ihre Kosmogonie allein ist das bewundernswerteste und ausgearbeitetste aller Systeme, selbst in ihrer Verschleierung in der Exoterik der Puranen. (…) Es ist nutzlos zu sagen, dass das in Frage stehende System nicht das Hirngespinst eines oder verschiedener einzelner Individuen ist, dass es eine ununterbrochene Aufzeichnung ist, die sich über Tausende von Generationen von Sehern erstreckt (…).“ 1)

Die Geheimlehre wäre demnach uraltes Seher-Wissen, geistgeschautes Wahrwissen, nicht aber das Ergebnis spekulativen Verstandesdenkens, auch keine bloße "Weltanschauung" und schon gar nicht irgendein willkürlich aufgestelltes Dogma. Durch Einweihung und geistige Schau will dieses Seher-Wissen erworben werden. Es handelt sich also bei der Geheimlehre um einen Erkenntnispfad, der von jedem Einzelnen in vollem Bewusstsein beschritten werden kann.
Bruchstücke einer so verstandenen Geheimlehre finden sich in allen heiligen Texten der Menschheit, in den Weisheitslehren aus West und Ost – in den indischen Upanishaden, in den Büchern der Kabbala, in den alten "herrmetischen" Schriften Ägyptens, auf Hermes Trismegistos zurückgehend, im Tao-teh-King des Lao-Tse sowie in den Fragmenten der Gnostiker, in einigen apokryphen Texten der Bibel, in alchemistischen und rosenkreuzerischen Schriften. Hier kann man von einer wahrhaft "Ewigen Philosophie", einer philosophia perennis sprechen. Dabei darf die historische Gnosis mit ihrem starken Dualismus nur als eine Entstellung der wahren esoterischen Urlehre gelten.
Die Esoterischen Lehren sind der Menschheit immer wieder durch "Gottesboten" (ind. Avatare) gegeben worden, und in Zeiten spiritueller Verfinsterung werden sie in geheimen Orden und Bruderschaften gehütet, wie im Abendland etwa der Templerorden, die Bauhüttengemeinschaften, die Freimaurer, Rosenkreuzer und sonstige verschwiegene Gruppen. Auch sind in Zeiten des Materialismus die esoterischen Grundwahrheiten oft in Vergessenheit geraten. Dennoch ist es mitten im 19. Jahrhundert Madame Blavatsky gelungen, die Esoterischen Lehren für die moderne Welt wiederzuentdecken. Dazu musste sie in den Osten reisen, weil nur dort das Erbe der Esoterik rein gehütet wurde; aber das "Licht des Ostens", das Madame Blavatsky der Welt brachte, erwies sich auch als das "Licht des Westens" – die esoterische Urlehre in ihrer Reinform.
Wollte man versuchen, die Essenz der Geheimlehre in wenigen Sätzen zusammenzufassen, so könnte man sich an die bündigen Grundthesen halten, die Frau Blavatsky am Ende ihres Hauptwerkes Die Geheimehre Band 1 (1888) selbst gegeben hat. Sie stellt dort einige Grundsätze auf, die zusammenfassend alles in sich bündeln, was die „Geheimlehre“ ausmacht.
1. Der oberste Grundsatz des Systems der Esoterik ist demnach der Einheitsgedanke, die Einheit allen Seins:

„Das Grundgesetz dieses Systems, der Mittelpunkt, aus dem alles emportaucht, und um und gegen alles gravitiert und von dem alle ihre Philosophie abhängt, ist das Eine gleichartige göttliche SUBSTANZ-PRINZIP, die Eine wurzelhafte Ursache. (…) Es wird ‚Substanz-Prinzip’ genannt, weil es auf der Ebene des geoffenbarten Weltalls zur ‚Substanz’ wird, zu einer Illusion, während es ein ‚Prinzip’ bleibt in dem anfangslosen und endlosen abstrakten, sichtbaren und unsichtbaren RAUME. Es ist die allgegenwärtige Wirklichkeit; unpersönlich, weil es alles und jedes Ding enthält. Seine Unpersönlichkeit ist die Grundidee des Systems. Es ruht in jedem Atome des Weltalls und ist das Weltall selbst.“ 2)

Es gibt also ein "homogenes göttliches Substanz-Prinzip", das allem Sein zurunde liegt. Dieses Prinzip äußert sich in jedem einzelnen Atom und im Weltall als Ganzem; es ist absolut überpersönlich und kann daher nicht mit einem Gott im theistischen Sinne verwechselt werden. Eher könnte man es das Höchste Sein nennen, oder besser die wesenhafte Essenz des Seins.
 
2. Der zweite Grundsatz der Geheimlehre ist jener der Periodizität allen Seins:

„Das Weltall oder die Schöpfung ist die periodische Offenbarung dieser unbekannten unbedingten Essenz." 3)

Es gibt Perioden manifestierten Seins und solche relativen Nicht-Seins, die aufeinander folgen wie Tag und Nacht, alle rhythmisch aus- und eingeatmet vom göttlichen Urwesen, dem Höchsten Sein. Die ganze Schöpfung zeigt sich als die Abfolge von Weltperioden. Zyklen von Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit, Schöpfung und Vernichtung folgen ewig einander, aber nicht im Sinne einer ständigen Wiederholung; denn in diesen Zyklen findet eine Bewusstwerdung und evolutionäre Höherentwicklung statt!

3. Das manifestierte Sein – die periodisch ins Sein tretende Schöpfung – besitzt grundsätzlich Maya-Charakter. "Maya" ist ein von den Alten Indern verwendetes Wort für Trug, Illusion, Täuschung, Schein.

"Das Weltall mit allem, was darin ist, wird MAYA genannt, weil alles darinnen vergänglich ist vom kurzdauernden Leben eines Leuchtkäfers bis zu dem der Sonne. Verglichen mit der ewigen Unveränderlichkeit des EINEN und der Wandellosigkeit dieses Prinzipes kann das Weltall mit seinen vergänglichen, ewig wechselnden Formen im Gedanken eines Philosophen notwendigerweise nichts Besseres sein als ein Irrlicht. Doch ist das Weltall wirklich genug für die bewussten Wesen in demselben, die ebenso unwirklich sind wie das erstere selbst." 4)

4. Illusion ist es auch, wenn man an das objektive Vorhandensein von "Materie" glaubt. In Wahrheit gibt es im Universum nur Bewusstsein, allerdings in verschiedenen Formen und Stufungsgraden.

"Alles im Weltall, durch alle seine Reiche, ist bewusst, d.h. begabt mit einem Bewusstsein seiner eigenen Art und auf seiner eigenen Wahrnehmungsebene. Wir Menschen müssen uns daran erinnern, dass wir einfach deshalb, weil wir keine Zeichen von Bewusstsein, die wir erkennen können in, sagen wir, den Steinen wahrnehmen, noch kein Recht haben, zu sagen, dass darin kein Bewusstsein existiert. Es existiert nichts Derartiges wie 'tote' oder 'blinde' Materie, wie es auch kein 'blindes' oder 'unbewusstes' Gesetz gibt. Diese Dinge finden keinen Platz unter den Ideen der occulten Philosophie. Die letztere bleibt niemals bei den oberflächlichen Erscheinungen stehen, und für sie haben die noumenalen Inhalte mehr Wirklichkeit als ihre objektiven Gegenbilder ...." 5)

5. Wenn das Universum somit einen bewussten, durchseelten und geistlebendigen Organismus darstellt, ein großes und in sich zusammenhängendes Schöpfungsgewebe, so wird dieses Ganze denn auch von geistigen Kräften geführt.

"Das Universum wird von innen nach außen bewegt und gelenkt. (....) Der ganze Kosmos wird von einer nahezu endlosen Reihe von Hierarchien fühlender Wesen geleitet, gelenkt und belebt, von denen jedes eine Sendung zu erfüllen hat, und welche – einerlei, ob wir ihnen den einen oder den anderen Namen geben, ob wir sie Dhyan Chohans oder Engel nennen – ‚Sendboten’ sind bloß in dem Sinne, dass sie die Ausführer der karmischen und kosmischen Gesetze sind. Sie sind in ihren einzelnen Abstufungen von Bewusstsein und Intelligenz unendlich verschieden, und sie alle reine Geister zu nennen, ohne irgendwelche irdische Beimischung, ‚woran die Zeit zu nagen pflegt’, heißt bloß einer poetischen Phantasie huldigen. Denn jedes von diesen Wesen war entweder ein Mensch oder bereitet sich vor, einer zu werden, wenn nicht in dem gegenwärtigen, so in einem vergangenen oder zukünftigen Manvantara ...." 6)

Dass das Universum von einer Hierarchie intelligenter Wesen gelenkt wird – dies wird der moderne Mensch wohl am wenigsten einsehen wollen. Doch hat sich die Kunde von Engeln, Devas und Naturgeistern in Mythen und Märchen am reinsten erhalten, und gerade darin zeigt sich ihr esoterisches Erbe. Auch kommen in allen Weltreligionen Engel-Hierarchien vor. Wir sehen in ihnen Scharen intelligenter und bewusster Wesen, die dieses Universum nach einem wohldurchdachten göttlichen Plan von innen her lenken. Denn das Universum mit allem, was darin geschieht, kann nicht bloß ein Produkt des Zufalls sein.


Manfred Ehmer

1) Die Geheimlehre, Band 1: Kosmogenesis, Den Haag o. J., S. 293.
2) Ebenda, S. 294.
3) Ebenda.
4) Ebenda, S. 295.
5) Ebenda.
6) Ebenda.

 

 

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