Einführung in die Theosophie

Das Tor zur Geburt

Geburt und Tod sind ein zusammengehörendes Mysterium. Doch die ausschließliche Beschäftigung des Menschen mit seiner Rückreise aus dem Leben scheint sein Interesse für das Drama seiner Reise ins Leben in den Hintergrund treten zu lassen. Wenn Reinkarnation, Evolution und das Karma-Gesetz als Erklärung für sonst uner-klärliche Fragen über das Leben akzeptiert werden, ist der Eintritt der Seele in einen neuen Körper ein genauso dramatisches Ereignis wie ihr Rückzug aus einem alten Körper. Nach einem langen Zeitraum des Ausruhens von der Aktivität in der physischen Welt ist die Seele wieder einmal zurückgekommen. Durch einen inneren Impuls wird sie veranlasst, neue Erfahrungen zu sammeln, die sie auf ihrer Pilgerreise zurück zur göttlichen Quelle voranbringen.

Der lange Zeitraum zwischen den Leben ist vergleichbar mit den Stun­den zwischen den Mahlzeiten. Eine Zeit für die Verdauung und Assimila­tion ist genauso notwendig wie das Mahl selbst. In der Zeit zwischen den Leben zieht die Seele die Essenz ihrer Erfahrungen aus dem vergangenen Leben, assimiliert sie und bringt dann diese Essenz in eine neue Inkarna­tion ein. Wie ein Tropfen Parfum die Atmosphäre mit seinem Duft erfüllt, so bildet die Essenz aus vergangenen Erfahrungen die grundlegenden Merkmale des Kindes, das in einem neuen Körper wiederkehrt.

Die Geburt umgibt ein zweifaches Mysterium. Erstens, das Wachstum des Embryos durch die körperliche Vereinigung seiner Eltern und das Durchlaufen früherer Entwick-lungsstadien, bevor es sich zu einem kom­plexen und exquisit geformten Wesen ent-wickelt, das schließlich seinen Weg aus der Dunkelheit seiner vorgeburtlichen Wiege erzwingt und sei­nen ersten Atemzug im physischen Körper tut. Zweitens — so heißt es —, hat die Vereinigung von der Seele mit dem Körper vor der eigentlichen physischen Geburt stattgefunden. Denn — so heißt es weiter — die Seele habe die Atome für die Verkörperung aufgrund äußerst wirkungsvoller Gesetze angezogen, die auch chemische Elemente zu wunderbaren Ge­bilden zusammenfügen.

Die Besonderheiten der physischen, emotionalen und mentalen As­pekte des einzelnen Wesens sind das Ergebnis vergangener Erfahrun­gen. Vergangenes Denken hat den gegenwärtigen Charakter geprägt; vergangene Wünsche, die gegenwärtigen Gelegen-heiten, vergangenes Handeln, das gegenwärtige Umfeld. Beide Mysterien enthalten ein Ge­dächtnismuster, das noch nicht vollständig vom menschlichen Verstand erfaßt wird. Elternschaft ist daher viel mehr als die bloße Verantwortung für das Aufziehen eines Kindes. Der physische Körper des Kindes beher­bergt eine Pilgerseele, die von seiner Vergangenheit her geformt wurde, und mit einer Zukunft, die die Eltern für eine kurze Zeit-spanne beeinflus­sen sollen. Seine eigentliche Zukunft jedoch ist »etwas, dessen Wachs­tum und Herrlichkeit grenzenlos ist«.

Wie oft ist wohl das Wort »Schutzengel« von Leuten gebraucht worden, die sich gewundert haben, wie ein Kind unverletzt durch gefährliche Si­tuationen hindurchgekommen ist. Theosophie hat stets die Existenz von großen Geistwesen vorausgesetzt. Diese überwachen das Wirken des Karmas, das durch vergangene Gedanken, Wünsche und Taten einer menschlichen Seele hervorgerufen wurde, und sie gehen besonders be­hutsam mit Kindern in ihren sensiblen Entwick-lungsjahren um. Es sind diese spirituellen Wächter, die einer Seele zur Geburt verhelfen, damit sie auf diese Weise ernten kann, was sie gesät hat, und die eigentliche Natur, die Essenz, am besten ihre Erfüllung findet. Sie ist die Frucht vieler Leben, die somit zum Ausdruck kommt. Weiterhin wird gesagt, daß das Kind in eine Familie hineingeboren wird, die sich aus Weggefährten früherer Leben zusammensetzt. Sie sollen vielleicht alte Verpflichtungen aufar­beiten, oder es soll von Menschen Zuwendung erhalten, die ihm von früher her schon wohlgesonnen sind und die ihm die notwendige Pflege bereitwillig zuteil werden lassen. Unglücklicherweise gibt es einige Fälle, wo die Beziehung in der Vergangenheit nicht immer ganz so glücklich ge­wesen ist und die jetzt in eine Verbindung umgewandelt werden muss, die von Liebe und Verstehen geprägt ist.

Das stimmt mit den okkulten Lehren überein; denn Theosophie weist auch darauf hin, dass das Baby zuerst vor lauten Geräuschen und hellem Licht geschützt werden sollte. Obwohl viel über den Geburtsvorgang geschrieben worden ist, sollte der Mensch etwas mehr über die Bedürf­nisse des Neugeborenen wissen, das seinen physischen Körper in Besitz nimmt. Nur Dichter und Studierende des spirituellen Lebens scheinen Hinweise zu geben auf diese »Wolken von strahlender Kraft und Herrlich­keit« und »die Erinnerung an die Unsterblichkeit«, welche sich so rasch verflüchtigen, sobald die Last der Reise von neuem aufgenommen wird.

Moderne Psychologen lehren einige dieser Wahrheiten, die den Lesern theosophischer Literatur längst bekannt sind, denn sie betonen jetzt die Bedürfnisse des Kindes nach Liebe und Geborgenheit vom Augenblick der Geburt an. Eltern, die intuitiv lernen, werden sich immer mehr der Verant-wortung bewusst, die sie auf sich genommen haben, indem sie Kanal für die Geburt einer Seele in einem Körper geworden sind. Sie sind bereit, größere Anstrengungen zu unternehmen, um dieser Verantwortung ge­recht zu werden. Ihnen ist klar, dass dieser hilflose Körper eine reife Seele beherbergen kann und daß sie eine Atmosphäre von Freiheit für ihr wei­teres Wachstum in der physischen, emotionalen und mentalen Entwick­lung schaffen müssen. Sie werden die Gelegenheit als Privileg wie auch als Pflicht erkennen, das Wachstum einer Seele zu fördern, indem sie die latenten Anlagen und Eigenschaften des Kindes zum Guten hin ent­wickeln und ihm helfen, seine Schwächen in den Griff zu bekommen. Glücklicherweise ist die von intelligenten Eltern geschaffene Atmosphäre seiner Entwicklung zuträglicher als die mehr einengende Erziehung vor einem Jahrhundert. Doch ist die Verantwortung größer, wenn das Verhal­ten der Eltern großzügiger ist und sie erfassen, dass das Kind mehr darauf reagiert, was sie sind, als auf das, was sie sagen. Wenn der frühe elter­liche Einfluss wirklich von gegenseitiger Liebe und Achtung getragen ist, wird er zu einem Schutzschild von Zärtlichkeit und Mitgefühl. Das ist des Kindes Geborgenheit, wenn es in die Welt hinaus geht und Zeiten des Leidens erträgt, die in jedem Leben unvermeidlich sind.

Geburt ist eine Erfahrung, an die sich das Kind nicht bewusst erinnert. Doch die Atmosphäre, in die es hineingeboren wird, kann das reichste Erbe sein, das die Eltern ihm hinterlassen können. Das Tor zur Geburt mag schnell vergessen sein; doch das Gefühl von Geborgenheit, die harmoni­sche Umgebung, die Gewissheit liebevollen Vergebens und Verstehens sind nicht so bald vergessen, wenn die Lektionen des Lebens Augen­blicke notwendiger Bestrafung bringen. Die Bedürfnisse der Seele sind nicht nur ein physischer Körper, sondern auch reichlich Gelegenheit, in Unabhängigkeit und Reife hineinzuwachsen. Genau wie die Nabelschnur bei der Geburt durchtrennt wird, muss eine zweite unsichtbare Abnabelung stattfinden, wenn die Seele bereit ist, in voller Freiheit ihrem Poten­tial zu entsprechen.

Ein Kind wird geboren, ein Seelenwanderer, der kurz das Haus des Kör­pers bewohnt, der es aus dem Mutterschoß in die Obhut beider Eltern bringt, zu zwei Menschen, die durch die große kreative Macht ihrer Liebe diese Verantwortung übernommen haben. Kluge Eltern suchen nach der bestmöglichen Art und Weise, dem Kind zu helfen, seine Emotionalität unter Kontrolle zu bringen, seinen Verstand zum rechten Denken hin zu entwickeln und auch seinen Körper zu einem würdigen Tempel für den spirituellen Bewohner, der sein wahres, sein permanentes Selbst ist, zu machen. Solche Eltern werden der Seele die Weisheit vermachen, die ihr spirituelles Erbe ist, und sie wiederum wird sie anderen vermachen, wenn sie Reife erlangt.

Zwei Lebensströme fließen durch die menschliche Pilgerreise: erstens, der Fluss der unsterblichen Seele durch einen Körper nach dem anderen - jeder beeinflusst von der Erfahrung des vorangegangenen - , und zwei­tens, der Fluss des Lebens von Generation zu Generation, die die physi­schen, emotionalen und mentalen Anlagen hinterlassen, die sich als Trä­ger der Seelen auf ihrer großen Reise entwickeln. Alle treten durch das Tor der Geburt ein. Die Reise ist universal und wird oft wiederholt; das Ziel ist das Haus unseres »Vaters«, das wir vor langer Zeit verlassen haben und wohin zurückzukehren wir uns sehnen.

Text von Joy Mills, Krotona USA, zur Einführung in die Theosophie


Das Leben nach dem Tod

Der Mensch kann sich nicht mit dem Tod abfinden, solange er ihn als das Ende ansieht. Die einzige Lösung scheint der Glaube an die Unsterb­lichkeit zu sein, wo sonst nur Hoffnungslosigkeit herrschen würde. Ein gewisses Maß an Glauben ist einfach notwendig, um solche Auffassung anzunehmen. Der indische Dichter Rabindranath Tagore hat diesem Bedürfnis in einem kurzen aber schönen Satz Ausdruck verliehen: »Der Glaube, der im Herzen eines Samenkorns ruht, verspricht ein Wunder an Leben, das er nicht beweisen kann.« Dieser Glaube an ein Wunder, der für die Wissenschaft nicht beweiskräftig nachgewiesen werden kann, hat den Menschen in allen Zeiten Mut gemacht. Die Lehre von der Konti­nuität des Daseins ist durch die gesammelte Weisheit der Vergangen­heit überliefert worden, obwohl sie oft in Aberglauben verborgen war und dieser durch Dogmen zunahm. Obgleich es einige empirische Beweise für das Überleben gibt, war es doch der Glaube, der hauptsächlich in den Bestattungsriten aller großen Religionen zum Ausdruck gekommen ist.

In seinem Inneren weiß der Mensch, dass er mehr ist als Fleisch und Blut, mehr ist als ein Tier, das lebt, um zu essen, zu schlafen und seine Art fortzupflanzen. Er fragt sich ernsthaft: »Wer bin ich, der in diesem Kör­per lebt?« Aus einer Mischung von Schmerz und Hoffnung kommt der menschliche Einwand: »Gibt es ein kontinuierliches Dasein für mich — Hans Müller — und für meine Frau Maria, die gewissermaßen ein Teil von mir geworden ist und deren Verlust ich nicht ertragen kann?« Der We­senskern solchen Forschens und die Bewusstseinstiefe, aus der es auf­steigt, liefern zusammen den Ansatz der Antwort. Der Mensch weiß, dass er mehr als sein Körper ist, daher ist er geneigt, Fragen über ein Weiter­leben einer Prüfung zu unterziehen.

Die uralten Lehren bestätigen einen innewohnenden geistigen Funken, der vor der Geburt existierte und auch nach dem Tode weiter existieren wird. Sie hegen die Überzeugung, dass sich der Mensch auf einer Ent­wicklungsreise befindet, die viele Leben erfordert, und dass er daher wie­derholt das Tor von Geburt und Tod durchschritten hat. Was u. a. zu den empirischen Beweisen dafür gezählt werden kann, sind besagte Erinne­rungen an vergangene Leben. Obgleich diese natürlich im wirklichen Sinne nicht bewiesen werden können, scheinen sie doch oft ganz echt zu sein. Wichtiger jedoch ist das individuelle Verständnis der eigenen Konti­nuität. Eine große Hilfe zum Verständnis des gesamten Themenkreises findet man beim Studieren des metaphysischen Systems — der Theosophie. In wenigen Worten werden einige leicht verständliche Erklärungen denen angeboten, die an der ewigen Suche nach Wahrheit über das Ge­heimnis von Leben und Tod interessiert sind.

Um den Tod nach theosophischem Verständnis zu untersuchen, muss der Mensch aus der niederdrückenden Atmosphäre von Kummer und Tragik, die ihn so oft umgibt, herausgelöst werden. Theosophie bietet eine Sichtweise an, die denen Vertrauen und ein Maß an Gelassenheit gibt, die nach dem Glauben im Samenkorn verlangen, bevor das Wunder der Entfaltung begonnen hat. Der Tod ist nicht sehr viel anders als der Schlaf. Wenn wir uns zur Ruhe legen, zieht sich das Bewusstsein vor­übergehend aus dem Körper zurück, und doch haben wir oft emotionale und mentale Erlebnisse. In unserem Traumzustand erforschen wir Tiefen und erreichen Höhen, die Bewusstseinsbereiche ahnen lassen, die über Erfahrungen in unserem Wachzustand hinausgehen. Wir wissen auch, dass der Mensch in einen Tiefenbewusstseinszustand — tiefer sogar als im Schlaf — versetzt werden kann und doch zu seinem Körper ohne Erin­nerung an das Stattgefundene zurückkehrt. Theosophie lehrt, dass der Körper im Todesfall für immer zurückgelassen wird und das Bewusstsein eine Reise in Bereiche beginnt, die viel erhabener sind als die, die im Schlaf oder durch andere Methoden des Rückzugs erreicht werden. Einige Hellsichtige können tatsächlich die Lebenskraft sehen, wenn sie den Körper in einem feinen Silberstrom, der aus dem Scheitel austritt, verlässt.

Ein wichtiger Hinweis, der von Studierenden der alten Lehren gegeben wird, ist, dass die beim Sterben Anwesenden der scheidenden Seele mit einer stillen und friedlichen Atmosphäre beim Hinübergehen helfen kön­nen. Stellen Sie sich vor, wie es sich anfühlen muss, ruhig aus einem schmerzgequälten Körper zu gleiten und sich befreit zu finden — anfangs vielleicht etwas verwirrt, ja nicht einmal gewahr, dass der Bewusstseins­bereich, in den man eingedrungen ist, nicht der gewohnten physischen Welt angehört. Da unser gesamtes Universum, das wir nur mit unseren physischen Augen wahrnehmen, von Leben durchdrungene Form ist, muss es eine wunderbare Erfahrung sein, neue Ebenen sehen zu können und sich ohne körperliche Begrenzungen frei Zu bewegen.

Obwohl der Mensch weiß, dass er mehr als sein Körper ist, ist es für ihn doch schwierig zu erkennen, dass rundherum und durch physische Materie hindurch andere Dichten von Materie existieren. Heutzutage je­doch mit Röntgenstrahlen, Radio und Fernsehen wird es einfacher, die Realität des Unsichtbaren zu akzeptieren. Die Wissenschaft befasst sich mit immer weiter reichenden Auffassungen über das Wesen von Materie und Energie, und der Laie ist immer mehr in der Lage, Konzepte zu erfas­sen, die sichtbare wie auch unsichtbare Kräfte mit einschließen.

Es gibt einen wichtigen Grund, sich der Kontinuität des Daseins über den Augenblick des Verlassens des physischen Körpers hinaus bewusst zu sein. Es muss erst ein Reinigungsprozess stattfinden, bevor die Seele in den tiefen glückseligen Zustand gelangen kann, den sie sich verdient hat. Während des Erdenlebens hat sie sich mehr oder weniger — je nach ihrer Entwicklungsreife — mit den Wünschen und dem Verlangen der physi­schen Welt identifiziert. In der Gefühlswelt bleiben diese häufig bestehen und können sich sogar zeitweise durch die Freisetzung von langsameren und schwereren Schwingungen der groben physischen Materie intensi­vieren. Doch diese müssen jetzt zurückgelassen werden, bevor die Seele die nächste Etappe ihrer Reise vollenden kann. Vielleicht würde eine Ana­logie zur Klärung beitragen. Wir wissen, dass bei der Salzgewinnung aus Meerwasser durch Verdampfen ein Rückstand übrig bleibt, der nicht rei­nes Salz ist, sondern Unreinheiten enthält, die entfernt werden müssen. Wir könnten sagen, dass Ähnliches stattfindet, wenn die Seele den Kör­per verlässt. Sie muss noch einen Reinigungsprozess durchmachen. Dazu wird Zeit gebraucht, insbesondere wenn die Emotionen intensiv und nicht konstruktiv gewesen sind. Oft benötigen wir Hilfe aus höheren emotionalen Ebenen. Allmählich jedoch tritt der Läuterungsprozess ein, und durch diese neue Freiheit beginnt die Seele die strahlende Welt zu schätzen, die ihre neue Heimstatt ist.

In dieser Zeit wird die Arbeit der Seele erschwert, wenn sie den Kum­mer der Angehörigen und Freunde mit erleiden muss. Was für eine harte Lektion! Doch die Lebenden, die dem Verschiedenen helfen möchten, werden ihn in dem Glauben an eine erneute Verbindung zu einem späte­ren Zeitpunkt freigeben. Man kann die Situation mit jemandem verglei­chen, der auf eine lange Reise an einen ungewissen Ort geschickt wird, an dem man ihn später wiedertreffen wird.

Forschungen durch ausgebildete Seher besagen, dass die Neigungen und Beschäftigungen aus der physischen Welt lebendig bleiben, wenn die Seele sich in die Astralebene begeben hat. Was wir hier machen — die Wahl unserer Gefährten und Beschäftigungen, unsere gedanklichen und gefühlsmäßigen Prozesse—, all das bildet das Material unserer Astralkör­per. Daraus muss die Seele während ihres Aufenthaltes in der Astralwelt das Gute herausziehen und wertlose Schlacken beseitigen.

Nach der theosophischen Philosophie sind der Emotionalkörper, wie auch der physische, vergänglich und müssen schließlich abgelegt wer­den. Da die groben Verlangen allmählich an Kraft verlieren, beginnt die Seele die Schwingungen, die von höheren Bewusstseinsebenen auf sie zukommen, zu schätzen. Sie setzt dann ihre Reise in diese Bereiche fort. Zu neuem Glanz von Leben und Farben erwacht, gereinigt und geläutert, kann sie jetzt in die Geisteswelt eintreten und auch hier der Läuterung ihrer Lebenserfahrungen nachgehen. War sie ein Denker hochgradiger abstrakter Gedanken, oder befasste sie sich nur mit Belanglosigkeiten des täglichen Lebens? Was motivierte ihr Leben auf Erden? Die Antwor­ten auf diese Fragen bestimmen die Stufe in der mentalen Welt, auf der sie damit beginnen kann, die Essenz ihrer Bemühungen dieses Lebens herauszufiltern.

Die gröberen Elemente ihrer Persönlichkeit können nicht in die himm­lischen Bereiche eindringen, in denen sie als nächstes ihre Fähigkeiten geistig verarbeiten und vereinigen wird, um so die Früchte zu genießen, die sie sich verdient hat – die Himmelserfahrung, nach der sie sich sehnt. Es gibt eine alte chinesische Redensart: »Wer die Ahnen verehrte, geht zu den Ahnen. Wer die Götter anbetete, geht zu den Göttern.« Darin liegt eine tiefe Bedeutung. Im Hier und Jetzt erschaffen wir unsere Himmels­erfahrung, so mächtig ist die Kraft der Gedanken. Da treffen wir dann mit Freude und Gelassenheit unsere Lieben wieder, die Teil unseres Daseins sind. Gereinigt und geläutert haben wir uns eine Ruhepause und Zeit zur Erneuerung verdient, bevor wir wieder einen physischen Körper anneh­men und unsere evolutionären Aufgaben weiter verfolgen.

Um die ganze wunderbare Bedeutung solch einer Lehre über das Leben nach dem Tode zu würdigen, die übrigens unter Eingeweihten schon jahrhundertelang bestand, ist es notwendig zu begreifen, dass wir uns alle auf einer Reise befinden. Wir sind individuelle Funken aus EINER Flamme – dem Ursprung, aus dem wir kommen und zu dem wir jetzt zurückkehren. Wir haben viele Leben gelebt, und wir sind viele Tode ge­storben. Jedes Leben glich dem periodisch wiederkehrenden Leben ei­ner Pflanze, die mit jedem Erblühen erneute Hoffnung auf letztendliche Vervollkommnung gibt. Durch den physischen Aspekt der Reise stoßen wir auf Gelegenheiten, uns auf die Vollkommenheit hin zu entwickeln, was in der christlichen Bibel »die Fülle Christi« genannt wird. In den emotio­nalen und mentalen Welten verfeinern und vereinigen wir diese Erfahrung zu größeren Fähigkeiten und Kräften, um unsere Reise mit größerer Stärke und Entschlossenheit weiter zu verfolgen. Unser Himmel ist von uns selbst gemacht; er ist keine Ewigkeit, sondern ein von unseren Be­dürfnissen bestimmter Zeitraum. Immer wieder erleben wir den Ruf zurück ins objektive Leben. Genau wie in diesem Leben erfahren wir wie­der und immer wieder unsere Tage der Aktivität. Jedes Erdenleben bringt uns dem Ende der Reise näher, bis die »Fülle Christi« endlich erreicht ist. Dann sucht die einzelne Seele keine Erfahrung mehr. Sie wird sich nämlich vom Zyklus von Geburt und Tod befreit haben. Wie es von Edwin Arnold in dem großartigen Epos »Die Leuchte Asiens« beschrieben ist, wird sie dem Beispiel der großen Erleuchteten folgen und »wie ein Tau­tropfen in den strahlenden Ozean eintauchen«, endlich eins mit ihrem göttlichen Ursprung. Niemand kann eine anderweitige Gewissheit dafür geben. Es ist jedes Menschen Bestimmung, nach Wahrheit zu suchen und sie für sich selbst herauszufinden. Daher kann die geheimnisvolle Lebensreise nur genannt werden: »Der Flug des All-einen zum ALL­EINEN.«

Text von Joy Mills, Krotona USA, zur Einführung in die Theosophie


Theosophie und Christentum
Theosophie und Christentum sind keine Gegensätze. Theosophie lehrt, dass allen äußeren Formen, seien es Schriften, Glaubensbekenntnisse oder Riten, eine gemeinsame innere Struktur zugrunde liegt, eine verbor­gene Seite, die im Laufe der Jahrhunderte fast verloren ging. Das Neue Testament weist immer wieder auf das Vorhandensein dieses inneren Aspektes hin. Bei einer Gelegenheit sagt Jesus zu seinen Jüngern: »Euch ist es gegeben, das Geheimnis des Reiches Gottes zu wissen; denen draußen aber widerfährt es alles durch Gleichnisse«  (Markus 4:11). Be­achten Sie die bedeutungsvolle Ausdrucksweise »denen draußen«. Mar­kus berichtet auch, dass, wenn sie allein waren, Jesus seinen Jüngern be­stimmte Wahrheiten mitteilte, die der Masse nicht übermittelt werden sollten. Bei anderer Gelegenheit sagte Er: »Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könntet es jetzt nicht ertragen« (Joh. 16:12). Keine dieser Wahrheiten ist je aufgeschrieben worden, obwohl die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie nach Seiner Auferstehung bekannt gemacht wurden, als Er sich Seinen Jüngern zeigte und zu ihnen von den Dingen sprach, »die zum Reich Gottes gehörten« (Kor. 1:3).

Ebenso offensichtlich sind die Hinweise auf die verborgene Seite des Christentums in den Briefen des Apostels Paulus. Vielfach stoßen wir auf solche Passagen wie »Wir sprechen von der geheimnisvollen, verborge­nen Weisheit. Gottes«, denn solche Dinge gehen über das menschliche Verstehen hinaus; »aber Gott hat sie uns durch Seinen Geist enthüllt« (Kor. 2:7-10). Dann fährt der Apostel fort, den bekehrten Christen zu be­richten, dass er nicht in der Lage sei, solche Weisheiten zu vermitteln, denn »ihr wart nicht fähig, sie zu ertragen; noch seid ihr jetzt fähig« (Kor. 3:2), was darauf schließen lässt, dass er geheimes Wissen besaß, wofür seine Anhänger aber noch nicht bereit waren.

Es erhebt sich natürlich die Frage, ob es möglich ist, in der christlichen Religion diese verborgenen Wahrheiten zu finden. Ist es denkbar, dass wir die äußeren Formen und Aufzeichnungen durchdringen können, und so die verborgene Bedeutung entdecken, die die äußere Form oft absicht­lich verhüllen soll? Theosophie liefert uns nicht nur eine Erklärung für das Unverständliche und Verborgene in den Schriften, nicht nur einen Schlüs­sel, wodurch die Aufzeichnungen mit Philosophie und Wissenschaft in Einklang gebracht werden können, sondern sie enthüllt auch eine uner­schöpfliche Quelle uralter Weisheit, die den offenbaren Unzulänglichkei­ten der äußeren Aufzeichnungen zugrunde liegt, und verbindet sie zu ei­nem harmonischen Ganzen.

Ein Teil des Schleiers, der die uralte Weisheit verhüllt, wurde durch H. P. Blavatsky in ihren Meisterwerken »DIE ENTSCHLEIERTE ISIS« und »DIE GEHEIMLEHRE« gelüftet. Hier finden wir eine tiefgründige Philosophie und Kosmogonie, die sich hinterscheinbaren Mythen und Legenden ver­bergen. Aus vielen ganz verschiedenartigen Symbolen jeder Rasse und jedes Zeitalters hat diese bemerkenswerte Frau eine eindeutige, einheit­liche Lehre offenbart. Die Beweise dafür häufen sich immer mehr, und der Wert ihrer Arbeit wird Jahr um Jahr in zunehmendem Maße mehr ver­standen und gewürdigt.

Die Bibel enthält einen wesentlichen Teil dieses uralten Wissens. Wenn wir sie so betrachten und sie nicht als separates und sich von allen ande­ren unterscheidendes Buch ansehen, wenn wir an sie mit dem gleichen kritischen Verstand wie an andere Forschungsgebiete herangehen, dann haben wir nichts zu befürchten. Erst wenn wir aufhören, sie mit hoch­heiliger Autorität zu versehen, wird sie eine wahrhaft wissenschaftliche und philosophische Religion ohne Aberglauben, der von wörtlicher Aus­legung herrührt, abgeben.

Es gibt keinen eigentlichen Konflikt zwischen Religion und Wissen­schaft. Der einzige Konflikt besteht zwischen vorbehaltslosem Forschen und der autoritären, kirchlichen Auslegung, die die Freiheit menschlichen Denkens einengt. Wahre Wissenschaft, wie sie aus der Feder ihrer mo­dernen Vertreter fließt, schließt sowohl den spirituellen wie auch den phy­sischen und emotionalen Aspekt des Menschen mit ein.

Viele der Sucher sagen heute wie Maria-Magdalena »sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben« (Joh. 20:13). Diese Suchenden verweist Theosophie auf den auferstan­denen Christos, auf das Ewige Licht, »welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen« (Joh. 1:9). Dieser Christos kann durch keinen Menschen ausgelöscht werden. Auf dieses »wahre Licht« hinzuweisen, soll in keiner Weise den überragenden Charakter von Jesus von Nazareth herabwürdigen. Alle Göttlichkeit, die je in einer menschlichen Gestalt ausgedrückt werden konnte, wird vollkommen in Ihm ausgedrückt, »der in allen Einzelheiten versucht wurde wie wir, doch ohne Sünde« (Heb. 4:15) und den wir entsprechend lieben und Meister nennen. Dennoch sollten wir die Tatsache nicht übersehen, dass es nicht so sehr die Person ist, die einmal lebte, auf die wir all unsere Hoffnung setzen, sondern auf Christos, der bis zum heutigen Tag in unseren Herzen wohnt. Das ist die Lehre der Theosophia aller Zeitalter.

»Hineinzuwachsen in das Maß der geistigen Größe und der Vollkommenheit Christi« (Eph. 4:13), das ist die wahre Erlösung, das ist der Himmel. Diese Göttlichkeit, »die in jedem Menschen leuchtet, der auf die Welt kommt«, liegt nicht nur im Menschen, sondern auch in jedem stofflichen »Hineinzuwachsen in das Maß der geistigen Größe und der Vollkommenheit Christi« (Eph. 4:13), das ist die wahre Erlösung, das ist der Himmel.

Diese Göttlichkeit, »die in jedem Menschen leuchtet, der auf die Welt kommt«, liegt nicht nur im Menschen, sondern auch in jedem stofflichen Atom. »Alle Dinge sind durch Ihn gemacht; und ohne Ihn ist nichts ge­macht, was gemacht ist« (Joh. 1:3). Sowie das Licht die Materie durch­dringt, beginnt sich - als Reaktion darauf - die Materie zu entfalten. So erfassen wir den Begriff der Evolution. Theosophie ist weit davon ent­fernt, das Göttliche und die Religion herabzusetzen: Evolution ist Reli­gion. Sie ist ein Zurückkehren zu Gott. Zuerst ist das EINE LEBEN noch unbewusst im Mineral und Gestein, entfaltet sich dann im Pflanzenreich zu immer stärker werdenden Empfindungen, geht danach ins Tierreich über und strömt schließlich in das Abbild Gottes ein, den Höhepunkt physi­scher Schöpfung, den wir als »Menschen« bezeichnen.

Aber der Mensch, wie wir ihn kennen, ist noch unvollkommen und befindet sich erst auf halber Höhe der evolutionären Leiter. Da er durch einen verzerrenden Spiegel schaut, erkennt er sich nicht so, wie er von seinem wahren und höheren Selbst gekannt wird. Jenen, denen das je­doch gelingt, ist es möglich, von der äußeren Welt in die innere Welt ein­zutreten. Die Menschen, die danach streben, halten nicht mehr an ge­schichtlichen Ereignissen einer bestimmten Zeitepoche fest, da diese lediglich Aspekte der EWIGEN WAHRHEIT sind. Das Leiden Jesu z. B., wie es im Evangelium beschrieben wird, steht symbolisch für den Abstieg des Göttlichen in die Materie.

Es ist wahr, dass Jesus geboren wurde, starb und auferstand von den Toten, wie die Leidensgeschichte berichtet, doch das ist nur ein Aspekt der nie endenden Wahrheit. Seit es Menschen gibt, gab es niemals eine Zeit, wo der Christus - das Geistige - nicht geboren, gekreuzigt und wie­der zu neuem Leben erweckt wurde in Ihm. Diese Offenbarung kann nicht nur auf die vollkommene Gestalt von Jesus von Nazareth beschränkt werden. Unsere Vorväter »haben alle einerlei geistigen Trunk getrunken; sie tranken aber von dem geistigen Fels, der mitfolgte, welcher war Chri­stus« (Kor. 10:4). Unsere Erlösung wird nicht allein durch den Sendungs­auftrag von Jesus von Nazareth vollbracht, als vielmehr durch den uns innewohnenden Christus, der Seinen Auftrag an der Menschheit zu allen Zeiten vor und seit Seiner Verkörperung erfüllt. So spricht Jesus auch, als Christus, zu den Juden: »Abraham, euer Vater ward froh, dass er meinen Tag sehen sollte; und er sah ihn und freute sich ... wahrlich ich sage euch: ehe denn Abraham ward, bin ich« (Joh. 8:56-58). Es könnte kein exakte­rer Beweis erbracht werden, dass der Tag des Christus nicht nur mit dem Leben von Jesus allein identisch ist. Dieses Leben ist ein perfektes Bei­spiel für etwas, das in gewisser Weise in jedem Zeitalter, unter allen Völ­kern, vom Anfang der Zeit an stattgefunden hat.

Ein bedeutender Kirchenvater, St. Augustin, der im 5. Jahrhundert lebte, bemerkte sehr richtig: »Das, was man Christliche Religion nennt, gab es schon bei den Ahnen und hörte nie auf zu existieren seit den Anfängen des Menschengeschlechtes bis hin zur Inkarnation Christi. Von da an wurde die wahre Religion, die schon existierte, Christentum ge­nannt. «

Jene, die ihre Überzeugung aus den Ewigen Wahrheiten, dem verbor­genen Aspekt des Christentums, herleiten, sind wie der Mensch in dem Gleichnis, »der sein Haus auf einen Fels baute« (Matth. 7:24). Sie können ohne Panik die Sandstürme der Kritik und des Zweifels mit ansehen, die in jedem neuen Zeitalter aufkommen. Stürme mögen kommen, Winde mögen wehen; aber das Haus steht fest verankert; denn seine Bewohner sind nicht mehr an die Buchstaben des Gesetzes gebunden. Sie halten sich an jene verborgenen spirituellen Grundlagen, von denen äußere Tat­sachen nur die Zeichen und Symbole sind. Da sie im Besitz der göttlichen Weisheit sind, kennen sie die Wahrheit, die die Menschen frei macht. So erweitert Theosophie unser Verstehen des Christentums und lehrt uns, unsere Religion nicht aufzugeben, sondern sie zu leben.

Text von Joy Mills, Krotona USA, zur Einführung in die Theosophie

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